Die Last
Eine ergreifende Erzählung über zwei Seelen, die in einer eisigen, stillen Welt ihre Lasten tragen und Trost in der Gesellschaft des anderen finden.
Der eisige Norden der Föderation der Neun lag sanft und in Weiß gehüllt dar nieder. Jede Form der bekannten Stille bahnte sich ihren Weg durch die Schwärze der endlos scheinenden Nacht, nur unterbrochen vom Donnern eines fernen Schneegewitters, das kurz darauf wieder in seiner eigenen Lautheit verstummte. Selbst der Schnee fiel lautlos zu Boden, sickerte sanft in die unberührte Decke des endlosen Weiß und verschwand darin, als wäre er nie gefallen, so als wäre er schon immer dort gewesen. Doch eine einsame, kleine Gestalt durchbrach die ewige Beständigkeit dieser lauten Stille, kämpfte sich mühsam und tapfer durch das grenzenlose Weiß des immerwährenden Schnees.
Die kleine Gestalt im endlosen Weiß schleppte sich und ihre schwere Last mit letzter Kraft zur alten Hütte mitten im Weiß des endlosen Seins. Die immerwährende Kälte kroch unaufhaltsam durch ihre dicke Kleidung, doch sie hatte schon vor Stunden aufgehört wahrzunehmen, wie sehr sie eigentlich fror. In der schonungslosen Finsternis konnte sie kaum noch ihre Hand vor Augen sehen, und nur der Kontrast zum Schnee und die kleinen Nachtschatten, die immer wieder durch das Schneegewitter aufblitzten, halfen ihr zu unterscheiden, wo sie begann und der Schnee aufhörte. Ihre kleine Lampe, das einzige elektronische Gerät, das hier im hohen Norden funktionierte, hatte schon vor Stunden den Geist aufgegeben. Typisch, dachte sich die frierende Gestalt, und musste lächeln, auch wenn die endlose Kälte ihr Gesicht taub gemacht hatte. Sie wusste nicht einmal mehr, ob sie tatsächlich lächelte oder ob ihr Gesicht einfach nur leblos geblieben war, wie alles um sie herum. So irrte die kleine Gestalt durch das Weiß, bis sie ihr fast unsichtbares Ziel im endlosen Schnee gefunden hatte. Mit letzter Kraft und einer halb erfrorenen Hand erreichte sie eine große Tür mitten im Schnee. Sie wischte mit ihrem Ärmel den Schnee weg, dort, wo sie ein Fenster erwartete, und ein leichter Lichtstrahl traf ihre an die endlose Dunkelheit gewöhnten Augen und blendete sie fast vollständig. Sie hielt kurz inne, unsicher, was das Licht zu bedeuten hatte, und zögerte. Es war, als würde das Licht sie magisch anziehen, und so erhob sie die Hand, ohne es wirklich zu wollen, und drückte die schwere Tür auf.
Die kleine Gestalt fühlte plötzlich, was sie scheinbar vergessen hatte, ein Gefühl, das so weit weg war wie ihre Heimat selbst: Wärme. Plötzlich spürte sie wieder all ihre Glieder und musste ihre Augen vor dem grellen Licht abschirmen. Fast hätte sie einen Schritt zurück in die endlose Kälte getan, doch ihr Körper kannte nur noch einen Weg. Ihre schweren Schritte führten sie über die Schwelle, und sie zog ihre schwere Last mit sich. Die Tür hinter ihr fiel laut ins Schloss, und in dem Moment spürte sie ihre unglaubliche Erschöpfung. Sie atmete tief durch. Ein und aus. Ein und aus. Zum Glück fand sie Halt an einem Tisch oder einer kleinen Kommode und konnte so zumindest ihre Würde bewahren. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, ihre Atmung sich beruhigt und die Wärme durch ihre Glieder geflossen war, nahm sie das Knistern von brennendem Holz wahr. Ihr Blick schweifte durch den warmen Raum. Zu ihrer Überraschung sah sie eine weitere Gestalt, die sie ebenfalls neugierig ansah. Wäre sie nicht so erschöpft gewesen, hätte sie laut losgelacht – über die Absurdität, gerade hier im absoluten Nichts auf eine andere Gestalt zu treffen.
Die andere Gestalt, die sie mit neugierigen, dunklen, fast schwarzen Augen anblickte, war ein Baldaner – ein seltener Anblick. So selten, dass man glauben könnte, sie stammten gar nicht von dieser Welt – und doch saß ein Baldaner, unmittelbar vor ihr, mit neugierigem Blick in einer Hütte, an einem Ort, wo niemand sein sollte. Immer noch an der Tür stehend, öffnete sie den Mund und nuschelte etwas. Sie hatte ihren dicken Schal vergessen, und als ihr bewusst wurde, dass kein einziges Wort zu verstehen war, spürte sie einen Moment der Verlegenheit aufsteigen. Sie wurde kurz rot und schüttelte den Kopf – nur um dann zu merken, dass niemand ihre Röte unter der dicken Kleidung sehen konnte.
Dann nahm sie den Schal ab und grinste dabei verlegen. »In der Ruhe liegt die Kraft! Ich bin Malarania und trage meine Last nach Malheim. Meine Freunde nennen mich meist Mala, also wenn du magst, kannst du das auch tun...« Sie sah den Baldaner weiter neugierig an, und dieser grinste breit und nickte freundlich, als er zu sprechen anfing: »Guten Abend! Ich bin Nedgra! Du kannst mich aber Ned nennen, wenn du magst. Ich bin ebenfalls hier für meine Last. Warum sollte man sonst in dieser endlosen Einöde sein, nicht wahr?« Er grinste noch breiter als zuvor, doch seine Miene wurde schnell besorgt. »Möchtest du etwas Warmes zu essen, Mala? Du siehst, verzeih mir meine Ehrlichkeit, fürchterlich aus.« Mala nickte eifrig und setzte sich ans warme Feuer zu Ned, der ihr eine Schüssel mit warmer Suppe und ein Stück viel zu großes Brot reichte. Die Wärme des Feuers ließ sie erst richtig spüren, wie taub und kalt ihr Gesicht geworden war. Das Knistern des Feuers hob die Stille um sie herum hervor, die sie in den vergangenen Stunden so tief verinnerlicht hatte. Sie schlürfte genüsslich den ersten flüssigen Happen ihrer Suppe und spürte, wie die warme Flüssigkeit ihre Kehle herunterfloss und ein wohliges Gefühl des heißen Schmerzes hinterließ. Sie genoss es sehr. Erst später, als der erste Hunger gestillt war, bemerkte sie, dass es Kürbissuppe war – ihre Lieblingssuppe.
»Ich habe auch noch leckeren Tee hier, also wenn du magst...« Mala nickte erneut eifrig, dachte sich aber zögernd: »Aber bitte keinen Grünen...« und bereute sofort, solch eine Forderung mitten im Nichts gestellt zu haben. Ned stellte ihr lächelnd eine dampfende Tasse mit rotem Tee hin, und sie war erleichtert. »Also Malarania... also Mala...«, korrigierte Ned verlegen hinzu, »... du bist auch hier für deine Last, ja?« Er warf einen kurzen Blick auf Malas Last, bevor er fragte: »Ist das bei euch in der Familie Tradition, oder machst du es aus eigenem Antrieb, weil es gerade wieder modern wird?«
Mala nippte an ihrer viel zu heißen Tasse Tee. Der Tee war wirklich gut, aber sie wusste nicht, ob es am Geschmack lag oder daran, dass er einfach nur heiß war. Dann sagte sie mit verbrannter Zunge: »Ja genau... meine Familie macht das schon, seit ich unsere Vorfahren zurückverfolgen kann, also bestimmt bereits um die 1000 Zyklen lang...« Sie lachte laut auf. »... aber ganz so genau weiß ich das auch nicht«, fügte sie hinzu.
»Bei mir ist das ziemlich ähnlich«, erwiderte Ned. »Meine Mutter ist eine Kaldrani, und wenn ihr Sohn nicht seine Last tragen würde, wäre das eine Schande für die Familie... und für die Gemeinschaft.« Er lachte herzlich, und doch erkannte Mala darin eine kleine Unsicherheit, die sie schmunzeln ließ. »... noch einen Nachschlag, Mala?« fragte Ned nach. Und obwohl sie satt war, sagte sie: »Ja bitte, und vielen Dank... Ned.«
Die beiden unterhielten sich lange über die seltsamsten Dinge, und wäre das Feuer nicht gewesen, hätten sie sich warm gelacht. Es war eine seltsame Situation, aber irgendwie fühlte sich Mala wohl, und sie mochte Neds Grinsen. Nachdem die beiden sich mehr als satt gegessen und viel zu lange geredet hatten, beschlossen sie schließlich, schlafen zu gehen. Mala und Ned zogen ihre Thermosachen aus und legten sich schlafen.
Die kleine Hütte im endlosen Schnee fügte sich ohne Makel in das perfekte Nichts des Schnees ein. Niemand, der diese Landschaft sah, wäre auf die Idee gekommen, dass diese kleine Hütte überhaupt existierte, und niemand ahnte, dass zwei erschöpfte Seelen vor einem warmen Kamin mitten in dieser endlosen Kälte lagen und, Thesta sei Dank, endlich schnell einschliefen. Die beiden hatten jedoch keine ruhige Nacht. Mala hatte wilde Träume, die sie nicht so recht einordnen konnte, und auch Ned schlief unruhig. Er drehte sich immer wieder hin und her, als wäre er in einem stillen Kampf mit seinen Gedanken. Zumindest wurde die endlose Stille immer wieder von seinem kurzen Aufstöhnen durchbrochen. Am nächsten Morgen, der viel zu früh hereingebrochen war, erwachten beide müde und ausgelaugt vom unruhigen Schlaf.
Als Mala erwachte, versuchte sie aus Gewohnheit, ihre N-KI um den Wetterbericht zu bitten, doch sie fand sich in der unendlichen Stille verloren. Nach ein paar Sekunden wurde ihr klar, wo sie sich befand: Hier, im nördlichen Teil der Föderation der Neun, machte das natürliche EMP-Feld jede Technik nutzlos – Mala stöhnte leise. »Bei den Sonnen«, begrüßte Ned sie. »Guten Morgen«, knurrte Mala zurück. »Ich mach mal etwas zu essen – wir haben einen langen Weg vor uns. Es sei denn, du möchtest lieber alleine gehen...?« fragte Ned zögerlich, aber freundlich. »Nein, bloß nicht!«, schoss es aus Mala heraus, bevor sie leicht lächelte. »Der Zufall hat uns zusammengeführt, und Gesellschaft ist immer gut. Lass uns den Weg gemeinsam gehen«, fügte sie mit einem Grinsen hinzu, »und ja, etwas zu essen ist eine gute Idee.« So aßen die beiden zum Frühstück Brot, Drachenrührei und etwas Speck von einem Pount.
Die erschöpften Lastträger öffneten die schwere Tür, und das strahlende Weiß des endlosen Schnees blendete sie augenblicklich. Nichts hatte sich verändert, und doch war alles anders als am Vortag. Die laute Stille lag noch immer schwer in der Luft, während in der Ferne das Schneegewitter tobte und mit seinem Donnern wie ein Schwert die Stille durchschnitt. Sie blickten sich an und nickten sich zu, während sie durch ihre dicken Schals lächelten und losgingen, ihre schwere Last tragend. Ned marschierte euphorisch voraus, stampfte durch den tiefen weißen Schnee und zog seine Last hinter sich her. Mala versuchte, den tiefen Spuren zu folgen, die er im Schnee hinterlassen hatte, und so liefen die beiden schweigend über Stunden hinweg. Der Wind blies ihnen entgegen, wirbelte immer wieder Schnee auf, und wäre da nicht das gleichmäßige Knirschen ihrer Schritte gewesen, hätte die Stille laut aufgeschrien.
Die Gedanken der beiden kreisten, denn es gab nichts anderes zu fassen als das endlose Weiß, das hier alles dominierte. Mala hätte normalerweise Musik gehört, doch in dieser Gegend funktionierte nichts – nicht einmal das. So blieben ihr nur ihre eigenen Gedanken, die allein vom fernen Donnern des Schneegewitters unterbrochen wurden. Mit der Zeit spürte Mala, wie der tiefe Schnee seinen Tribut forderte. Die Last auf ihren Schultern wurde immer schwerer. Sie presste die Lippen zusammen, um keinen Laut der Erschöpfung herauszulassen. Auch der gedankenlose Schnee schien beschlossen zu haben, sie langsam zu Boden zu reißen.
Ned ging vor ihr her, zog seine eigene Last und blickte von Zeit zu Zeit zurück. Manchmal schien es, als würde er verlangsamen, um sicherzustellen, dass Mala noch hinter ihm war. Doch er sagte nichts, und auch sie nicht.
Als Mala stolperte und auf ein Knie fiel, war sie für einen Moment unsicher, ob sie wieder aufstehen konnte. Die Kälte kroch durch ihre Kleidung, und das Gewicht ihrer Last fühlte sich schwerer denn je an. Sie zögerte; sie wollte nicht noch mehr Last sein – wollte selbst keine Last sein. Doch bevor sie es über ihre Lippen brachte, war Ned schon bei ihr. Er reichte ihr die Hand, ohne ein Wort zu verlieren. Dankbar nahm sie sie an, und als sie wieder stand, blickte sie ihm in die dunklen Augen zwischen all dem Weiß.
»Alles okay?«, fragte er schließlich flüsternd.
Mala nickte, obwohl sie den Kopf schütteln wollte. Ihr Körper reagierte aus Gewohnheit, während ihre Gedanken noch immer kreisten. Sie spürte seine Hand an ihrer, bevor er sie losließ und wieder voranging. Doch diesmal schien er langsamer zu gehen, fast so, als würde er sich ihren Schritten anpassen. Zum ersten Mal fühlte sie, wie ihre Last etwas leichter wurde. Sie verstand nicht genau, warum, aber es fühlte sich irgendwie anders an.
Der Wind nahm zu, und der Schnee begann, einen eigenartigen Tanz mit sich selbst aufzuführen. Er wirbelte und drehte sich in endlosen Schleifen, als hätte er eine Idee von sich selbst. Die Sicht wurde schlechter, doch durch das endlose Weiß hindurch blieb Ned immer in ihrer Nähe. Malas Augen suchten nach ihm, und immer wieder fand sie seinen Blick, diese dunklen Augen, die selbst durch den dichten Schnee zu ihr fanden. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber in diesen Augen schien ein Lächeln zu liegen, das trotz der Kälte und der Anstrengung immer wieder zu ihr zurückkehrte.
Doch langsam wurde es dunkler, und das endlose Weiß wurde durch das endlose Schwarz abgelöst. Malas Lampe war noch immer kaputt, und so durchbrach nur ein schwaches Licht die Schwärze und zeigte, dass der Schnee selbst, wenn niemand hinschaute, weiter tanzte. Die Orientierung wurde für die beiden zusehends schwerer, und immer öfter mussten sie ihren Positionskompass bemühen, nur um dann zu vergessen, was er anzeigte. Je dunkler es wurde, desto näher war Ned bei ihr.
So liefen die beiden Gestalten durch den dunklen Tanz des Schnees, bis sie schließlich vor der Tür der nächsten Hütte standen. Für einen Moment schienen sie es kaum glauben zu können, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Doch anstatt der erwarteten Erleichterung spürten sie beide ein Zögern. Die Kälte schien intensiver zu werden, als sie sich der schweren Tür näherten. Sie atmeten tief ein, warfen sich einen kurzen Blick zu – und rissen die Tür gemeinsam auf.
Als die Tür aufsprang, wich Mala einen Schritt zurück. Keine Wärme strömte ihnen entgegen, keine Flamme erhellte die Dunkelheit. Es war, als wäre die Hütte selbst ein Stück der eisigen Leere des endlosen Nichts. Ned nahm sanft ihre Hand, und ohne ein Wort zog er sie über die Schwelle. Dann legte er seine Last ab und machte sich daran, den Kamin zu entzünden. Das leise Knistern des Holzes hallte in der Hütte wider, doch Mala stand noch immer wie angewurzelt an der Tür. Ihre Gedanken schienen im Stillstand der Kälte gefangen, ihre Sinne von der eisigen Leere betäubt. War sie wirklich hier? Oder war sie längst im tiefen Schnee versunken und träumte nur davon, hier zu sein?
Erst als ihre Last schwer zu Boden fiel, kehrte Mala in die Gegenwart zurück. Sie blinzelte, als die ersten Lichtstrahlen des Feuers den Raum durchdrangen und die Dunkelheit langsam verdrängten. Die Wärme breitete sich schnell aus, und sie spürte ihre Finger, ihr Gesicht – das Zittern, das sie zuvor gar nicht wahrgenommen hatte, ließ nach. Sie legte ihre Oberbekleidung ab und ging in die kleine Küche, um etwas zu essen für die beiden zuzubereiten – und natürlich Tee. Rot.
Ein Lächeln huschte über Malas Gesicht. Sie wusste nicht genau, woher es kam, aber es fühlte sich eigenartig gut an – als ob ein Teil der Last von ihr abfiel. Ned bemerkte es und grinste zurück, sein Blick voller Verstehen. Ohne Vorwarnung durchbrachen sie die laute Barriere der Stille und brachen in lautes Lachen aus – es kam so unerwartet, so unkontrollierbar wie der tanzende Schnee, dass sie selbst überrascht waren, überhaupt die Kraft dafür zu haben. Die Kälte, der tanzende Schnee, die Anstrengung – all das schien für diesen Moment nicht mehr zu existieren. Es gab nur die Wärme des Lachens, das sie für einen kurzen Augenblick von allem befreite.
Innerlich warm zogen die beiden ihre Thermosachen aus und setzten sich ans Feuer. So saßen sie, essend und sich wärmend, am Feuer; beide grinsten vor sich hin, während sie Tee tranken. Sie unterhielten sich die halbe Nacht, als würde morgen keine weitere Reise anstehen, und sprachen über ihr bisheriges Leben.
So stand die Hütte einsam im ewigen Schnee. Das Lachen der beiden durchbrach immer wieder die aufdringliche Stille, während sie sich weiter wärmten und unterhielten. Doch als die Erschöpfung schließlich über sie kam, verschmolz das Knistern des Feuers mit der lauten Stille der Nacht, die ihren unaufhaltsamen Platz im endlosen Sein zurückerlangte und schließlich schwieg.
Als der neue Tag erwachte, nahm niemand Notiz von ihm. Niemand außer den beiden Gestalten in der kleinen Hütte, die unruhig erwachten. Doch heute fühlte sich etwas anders an als am Morgen zuvor. Keiner von ihnen wusste genau, was es war, aber sie spürten es. Mala schürte das Feuer neu an, und die beiden aßen gierig das von Ned zubereitete Frühstück – Brot mit reichlich Butter und Speck.
»Wir müssen bald los«, sagte Ned mit vollem Mund. Mala schaute betrübt zu Boden. »Ja, hinaus in die Kälte und diese pountschwere Last tragen.« Neds Lächeln verschwand, und er blickte sie ernst an. »Mala, pass auf. Wir werden das schaffen, alles wird gut ausgehen. Es wird schwer, ganz sicher, aber genau dafür sind wir hier, oder nicht?« Dann huschte wieder ein Grinsen über seine Lippen, und auch Mala konnte nicht widerstehen. »Lass uns heute unsere Last gemeinsam tragen, Mala, okay?«
Mala verstand erst nicht, doch dann stand sie auf und reichte Ned die Hand zum Einschlagen. Sie zögerte kurz, als ihr einfiel, dass er ein Baldaner war, und lächelte verlegen. Sie deutete auf ihre ausgestreckte Hand, und Ned verstand sofort. Er schlug etwas unbeholfen ein, und das ließ beide kurz lächeln. Gemeinsam zogen sie sich an, löschten das Feuer und nahmen ihre Last. Sie stießen die Tür zur endlosen Schneelandschaft auf und traten hinaus. Nachdem sie den Positionskompass auf die nächste Hütte im Norden ausgerichtet hatten, schulterten sie ihre Last erneut – diesmal aber gemeinsam. Zum ersten Mal auf ihrer Reise fühlte sich die Last plötzlich leichter an, fast federleicht, als ob ein unsichtbarer Teil von ihr abfiel. Sie sahen sich an und wussten, dass sie diese Last wirklich gemeinsam trugen.
So stampften die beiden gemeinsam durch den immerwährenden Schneetanz. Seite an Seite liefen sie, die Last teilend, durch den tiefen Schnee. Doch als das Licht des Tages immer weiter schwand und die Finsternis überhandnahm, stolperten sie beide und fielen in den Schnee. Die Last schien von Stunde zu Stunde schwerer zu werden. Mala wollte am liebsten liegen bleiben. Was gab es schon noch? Nur den endlosen Schnee – kein Ende in Sicht. Nichts, rein gar nichts, schien gerade Sinn zu ergeben, nichts war liebenswert, nicht einmal sie selbst.
Doch dann spürte sie plötzlich eine Berührung: Neds Hand auf ihrer Schulter. Er zog sie hoch und schaute sie mit seinen dunklen Augen an. Er nickte, und in seinen Augen lag wieder dieses Lächeln. Langsam beugte er sich vor, bis seine Stirn die ihre berührte. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen.
Wärme. Wärme, wo keine sein durfte. Die Kälte zerrte an ihnen, aber die Wärme wollte nicht verschwinden. Sie verharrten so für einen Moment, bevor sie sich lösten. Mala sah Ned an und nahm die gemeinsamen Schulterriemen. Sie reichte sie ihm, und gemeinsam schulterten sie ihre Last. Dann zogen sie weiter durch den endlosen Tanz des Nichts, der hier alles war.
Als der lautlose Tanz des Schnees sein Crescendo erreichte, kamen die beiden endlich an der Hütte an. Sie zögerten erneut, bevor sie gemeinsam die Tür aufstießen, doch Mala war diesmal auf die Kälte und Lichtlosigkeit vorbereitet. Sogleich machte sie sich daran, das Feuer anzumachen, während Ned das Abendessen zubereitete und den Tee aufsetzte. Ohne ein Wort über den Sturz zu verlieren, saßen sie am Feuer, aßen die heiße Suppe und tranken den dampfenden Tee. Satt und erschöpft schliefen sie schließlich sorgenvoll vor dem knisternden Kamin ein.
So war es wieder das Knistern des Feuers, das die Hütte von der überwältigenden Stille der endlosen Kälte abgrenzte. Das und die beiden kleinen Gestalten, die sich unruhig im Schlaf hin und her wälzten.
Der tanzende Schnee klopfte hartnäckig an die Tür der kleinen Hütte und riss die beiden unsanft aus dem Schlaf. »Bei den Sonnen«, knurrte Ned und schürte, noch immer müde, die glimmende Glut zu einem großen Feuer. Mala blieb noch einen Moment liegen und verlor sich in Tagträumen, bis der Geruch von Eiern sie langsam zurück in die Realität holte. Nachdem sie gegessen und warmen Tee getrunken hatten, machten sie sich auf ins erbarmungslose Schneetheater, um die nächste Hütte zu erreichen und ihrem Ziel ein Stück näher zu kommen. Gemeinsam schulterten sie ihre Last und stapften weiter gen Norden. Der morgendliche Schneetanz war heftiger als an den Tagen zuvor, und so kamen sie deutlich langsamer voran als gestern.
Nach etlichen Stunden, in denen der Wind unaufhörlich gegen die beiden Reisenden peitschte, sank Ned plötzlich auf die Knie. Die Last rutschte von ihren Schultern und versank tief im Schnee. Besorgt sah Mala zu ihm hinunter. Langsam kniete sie sich neben ihn und blickte in seine dunklen Augen, die ins Leere starrten. Diesmal sah sie kein Lächeln. Keine Wärme. Nur Kälte und Hoffnungslosigkeit spiegelten sich in seinen müden, glanzlosen Augen. Sie wusste, was er dachte. Sie wusste, dass er am liebsten liegen bleiben wollte, dass er keinen Sinn mehr sah.
Behutsam nahm sie seine Hand, und seine Augen fanden ihren Blick. Sie kam näher und legte ihre Stirn an seine. Da war sie wieder, diese Wärme, die es hier nicht geben durfte. Doch diesmal war etwas anders. Die Wärme kam nicht von außen, sondern tief aus Mala selbst. Sie spürte, dass sie die Kraft hatte, Ned zurückzuholen – genau wie er es zuvor bei ihr getan hatte. Die Kälte, die so lange zwischen ihnen gewütet hatte, fand keinen Platz mehr. Dann spürte sie, wie Ned ihre Hand drückte. Sie schaute ihm in die Augen und da war es wieder. Dieser Glanz. Dieses Lächeln – die Wärme.
Mala half Ned wieder auf die Beine, und gemeinsam schulterten sie ihre schwere Last. Der Weg nach Norden zog sich endlos vor ihnen hin, und mit jedem Schritt knirschte der Schnee unter ihren Füßen wie ein ständiges, leises Mahnen. Die Stille war erdrückend, und selbst das entfernte Rauschen des Windes und das Knirschen des Schnees konnten daran nichts ändern - die Stille war so laut wie noch nie zuvor. Der Schnee peitschte ihnen ins Gesicht, und sie mussten den Kopf gesenkt halten, um weitergehen zu können. Dennoch begegnten sich immer ihre Blicke und in ihren Augen zeigte sich ein zartes Lächeln.
Schweigend gingen sie weiter, Schritt für Schritt, bis sie schließlich in der Dunkelheit die nächste eingeschneite Hütte erreichten. Mala konnte kaum ihre Finger bewegen, als sie versuchte, die Tür vom Schnee zu befreien. Ihre Hände waren taub, und selbst die dicke Kleidung schien nicht mehr gegen die Kälte anzukommen. Doch schließlich gelang es ihr, die Tür zu öffnen. Sie traten hinein, der Raum war dunkel und still. Sie machten wortlos ein Feuer, um sich zu wärmen und das Essen zuzubereiten.
Das Feuer begann leise zu knistern, und die Wärme kroch langsam durch die Hütte. Mala spürte, wie die Kälte von ihr wich, doch die Müdigkeit blieb. Sie aßen schweigend und tranken heißen Tee. Die Flammen des Feuers warfen tanzende Schatten an die Wände, doch die Stille, die sie beide umgab, schien schwerer als zuvor – Worte schienen überflüssig.
Mala hob kurz ihren Blick zu Ned, suchte in seinen Augen nach einem Funken, einer Regung, nach seinem Lächeln, doch er saß da, stumm, und starrte in die Flammen. Für einen Moment überlegte sie, etwas zu sagen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Vielleicht war es besser so. Was hätte sie auch sagen können? Sie nippte an ihrem Tee und ließ den Dampf langsam in ihrem Gesicht aufsteigen. Ein leiser Seufzer entwich ihr. Ned drehte kurz den Kopf, als hätte er es bemerkt, doch auch er sagte nichts. Nur der Tee wärmte ihre kalten Hände, und das Knistern des Feuers füllte die Stille. Diese Stille drückte auf ihre Schultern, als wäre sie selbst eine unsichtbare Last, schwerer als die, die sie den ganzen Tag getragen hatten
Doch plötzlich durchbrach Neds Stimme das drückende Schweigen. Mala zuckte unwillkürlich zusammen, als seine Worte die Stille zerschnitten. Sie hatte nicht erwartet, dass er sprechen würde, und noch weniger, was er zu sagen hatte.
»Es tut mir leid, was vorhin passiert ist... am liebsten wäre ich als Mahnmal für andere eingefroren dort liegen geblieben...« Er seufzte und senkte kurz den Blick. Für einen Moment schien es, als hätte er nicht die Kraft, weiterzusprechen. Doch dann formte sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht. »... aber du hast mir wieder Kraft gegeben. Ich weiß nicht, was ohne dich passiert wäre.«
Mala sah ihn an und lächelte sanft. Dann robbte sie zu Ned und nahm seine Hand. Ihre Finger zitterten, aber nicht vor Kälte. Er lächelte, und eine kleine Träne lief seine Wange hinunter. Dann sah er Mala an. »Weißt du...«, er stockte kurz, und Mala sah den inneren Kampf in ihm aufflammen. Doch dann schien er loszulassen, und eine seltsame Zufriedenheit breitete sich über seine Gesichtszüge aus. »... ich habe jemanden verloren. Jemand unglaublich Wichtiges... sie trat ihre Reise an, aber ihre Last war zu schwer für sie – eine Last, die keine zehn Mammutschildkröten hätten ziehen können. Und ich war nicht bei ihr... nicht in ihrem letzten Moment.«
Mala drückte Neds Hand fester. Sie verstand, was er sagen wollte, und es tat ihr im Herzen weh.
»Fast wäre ich heute meiner Last erlegen... aber dann warst du da, Mala.« Er lächelte breit und drückte ihre Hand ebenfalls fester.
Mala nickte. »Weißt du, Ned... gestern, als wir beide hingefallen waren, wollte ich aufgeben. Ich wollte einfach liegen bleiben, eins werden mit dieser Welt. Ich wollte Teil dieser unendlichen Stille werden. Ich wollte meine Last nicht mehr tragen – sie war einfach zu viel für mich. Ich wollte gar nichts mehr.« Dann lächelte sie. »Aber dann warst du da. Einfach nur du. Und ich spürte wieder etwas. Ich spürte, wie meine Last von mir abfiel.« Eine Träne lief auch ihre Wange hinunter. »Ich habe meine Dämonen in mir. Sie zerren an mir, sie reißen mich manchmal in einen tiefen Abgrund... ohne Licht, ohne Gefühl. Es ist dort so kalt, dass ich es nicht in Worte fassen kann und ich mich selbst nicht mehr fühlen kann. Aber als sie mich gestern in diesen tiefen Abgrund zogen, habe ich plötzlich etwas gespürt... ich habe eine Wärme gefühlt... ich habe dich gespürt. Du warst da. Einfach so.«.
Sie nahmen sich beide in die Arme und fingen beide an zu weinen. Dankbar dafür, dass der andere einfach da war.
So saßen die beiden in der Hütte, die nun kein Teil mehr des endlosen Nichts war. Echte Wärme durchdrang diese Nacht, und das Lachen der beiden durchbrach die Stille, die nun keine Stille mehr war. Sie war nicht mehr leer und bedrückend, sondern fühlte sich an wie eine sanfte Ruhe, die das Lachen und die Gespräche der beiden in sich aufnahm. Die ganze Nacht unterhielten sie sich, bis der Morgen über das Schneetheater hereinbrach. Doch obwohl sie kein Auge zugemacht hatten, fühlten sie sich so wach und lebendig wie nie zuvor auf dieser Reise – als hätte die Nacht selbst ihnen neue Energie geschenkt. Das leckere Essen und der gute Tee stärkten sie noch einmal, und so rissen sie die Tür ins Nichts auf und stampften gemeinsam mit ihrer geteilten Last los.
Die folgenden 28 Tage vergingen wie in einem endlosen Traum aus Schnee und Dunkelheit, wie ein Traum aus Tanz und Stille, dessen Akte untrennbar zusammenhingen und doch kaum zu unterscheiden waren. Jeden Tag stampften sie durch die erbarmungslose Kälte, kämpften gegen den Wind, und die unaufhörlichen Schneetänze wurden mit der Zeit nur noch aufdringlicher in ihren Auftakten, fast, als glaubten die Schneetänze, dass sie niemand mehr beachtete.
Manche Tage fühlten sich endlos an, als würde der Schnee nicht nur die Landschaft, sondern auch ihre Gedanken erdrücken. Ihre Schritte verschmolzen mit den Windböen, die sie fast wie Tänzer durch die endlose weiße Bühne des Schnees führten. An anderen Tagen jedoch schien jede Bewegung unmöglich, die Kälte, die Erschöpfung und die Stimmen ihrer Gedanken trieben sie fast in die Knie. Der Schnee drückte schwer auf ihre Seelen, als würde er sie in ein tiefes, allesverschlingendes Loch ziehen wollen, doch dann spürten sie einander. Ein einfacher Blick reichte, oder eine flüchtige Berührung – genug, um die Kälte für einen Moment zu vertreiben und die verborgene Wärme zwischen ihnen aufkeimen zu lassen.
Doch dann gab es Momente, in denen sie einander fanden. Ein flüchtiger Blick, eine Berührung, ein Lächeln auf dem Gesicht des anderen, selbst ein sanfter Atemzug, der die Kälte durchbrach. Für einen Moment wärmte das leise Wissen um die Nähe des anderen ihr Innerstes. Es war, als würde diese Wärme die Schwere des Schnees vertreiben – auch wenn es nur für einen Herzschlag war.
Mit jedem Schritt wuchs ihre Entschlossenheit, und die Monotonie des täglichen Überlebens festigte ihre Verbindung. Mit jedem Tag wurde die Stille nicht weniger leise, sondern lauter. Doch anstatt sie zu erdrücken, begann sie, der Stille Raum zu geben. In dieser endlosen, wahrhaftigen Stille fanden sie sich selbst – und einander. Die Tänze des Sturms wurden heftiger, die Dunkelheit tiefer, aber sie gingen weiter – immer weiter, Schritt für Schritt, als wären sie selbst Teil dieser Einöde geworden, ohne selbst zur ihr zu werden.
Dann erreichten sie die letzte Hütte. Mala schürte das Feuer, und Ned kochte wie immer abends eine leckere warme Suppe mit rotem Tee. Für die beiden war es fast unwirklich, dass dies das letzte Mal sein würde, dass sie all diese Dinge zusammen taten. Doch sie sprachen nicht darüber; die Worte blieben unausgesprochen, hingen in der Luft wie der Duft der Kürbissuppe, der die Hütte erfüllte. Stattdessen redeten sie über alles andere. Lautes Lachen erhellte fast die gesamte Nacht, bis es allmählich verstummte. Nur das Knistern des Feuers blieb, das über sie wachte, während sie schließlich vor Erschöpfung am Kamin lächelnd einschliefen.
Die beiden erwachten fast so, wie sie eingeschlafen waren – mit einem Lachen. Ned hatte mal wieder einen seiner Flachwitze erzählt, während Mala sich am Tee verbrühte. Es fühlte sich nicht an wie der Morgen des letzten Tages, sondern wie ein ganz gewöhnlicher Morgen auf ihrer Reise. Doch als sie das Feuer löschten und gemeinsam ihre Last schulterten, spürte Mala eine leise, unterschwellige Spannung in der Luft – als ob der Schnee selbst innehielt und auf das wartete, was nun kommen würde.
Als sie die Tür öffneten und hinaustraten, atmeten sie noch einmal tief ein und aus. Die kalte Luft durchströmte ihre Lungen, doch alles schien wie immer. Der Schnee tanzte um sie herum, fast wie eine sanfte Umarmung zum Abschied. Ihre Blicke trafen sich, und Mala erkannte in Neds Augen das Lächeln, das sie so oft in den dunkelsten Momenten getröstet hatte. Keine Worte waren nötig. Beide wussten, dass dies kein Abschied war, sondern ein Neubeginn. Ohne ein weiteres Wort setzten sie ihren Weg fort, Seite an Seite, mutigen Schrittes.
Doch das Schneetheater spielte nach seinen eigenen Regeln und blies zum letzten Akt. Was als ruhiger Morgen begann, verwandelte sich bald in ein surreal anmutendes Spektakel. Ein Schneegewitter zog auf. Zuerst schien es in der Ferne zu toben, doch plötzlich zerriss ein Donner die Stille, und der Schnee um sie herum begann zu vibrieren, als hätte die Erde selbst ihre Ruhe verloren. Sie waren mitten in der Gewitterzelle. Blitz und Donner jagten sich am Himmel, und Schritt für Schritt kämpften sie sich voran, Hand in Hand, ihre Last gemeinsam tragend.
Der Wind peitschte stärker, zerrte an ihren Kleidern, zerrte an ihrer Last und machte sie so schwer wie noch nie zuvor. Es war, als würde der Himmel über ihnen zusammenbrechen und sie erdrücken, bis sie schließlich schwer in den tobenden Schnee fielen. Mala rang nach Atem, die tanzenden, eisigen Flocken nahmen ihr jede Sicht. Keine zehn Zentimeter weit konnte sie sehen, und Ned war verschwunden. Panik stieg in ihr auf, ihr Herz raste. Sie sprang auf, drehte sich um und schrie verzweifelt nach Ned, doch ihre Stimme verlor sich im tosenden Tanz des Schnees. Die laute Stille in ihrem Inneren, diese erdrückende, lautlose Leere, kroch wieder in sie hinein – lauter, unerträglicher als jemals zuvor. Der Wind packte sie, zerrte an ihren Gliedern, als wollte er sie zurück auf den Boden reißen. Der Schnee war kein Tanz mehr, er war ein wildes Tier, das um sie her wirbelte, in ihre Augen und ihre Lungen drang, alles verschluckte, was sie war.
Doch noch immer stand Mala.
Dann plötzlich, zuckte ein Blitz am Horizont, und sie sah eine Silhouette auf sich zukommen. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie rannte auf den Schatten zu – und da war er. Ned. Lebendig. Er stand vor ihr, und in diesem Moment schien alles andere zu verschwinden. Ihre Blicke trafen sich, und sie sah das breiteste Lächeln, das sie je bei ihm gesehen hatte. Mala stürzte in seine Arme, ihre Finger klammerten sich fest an ihn, als könnte sie ihn nie wieder loslassen. Die Wärme, die von ihm ausging, durchdrang sie wie ein Feuer, das tief in ihr loderte – ein Feuer, das von ihnen beiden angefacht worden war.
Ned löste sich aus der Umarmung, riss die Arme hoch und jubelte dem tobenden Schneegewitter entgegen. Mala starrte ihn an, erst verwirrt. War Ned verrückt geworden? Doch dann, als sie in seine dunklen Augen blickte, begriff sie plötzlich, was geschehen war. Sie waren nicht liegen geblieben. Nicht der Sturm, nicht die Kälte, keine Last dieser Welt konnte sie mehr niederdrücken. Ihre Sorge galt nur noch dem anderen. Kein Sturm konnte sie mehr ins Wanken bringen. Und wenn sie doch fielen, dann würden sie immer wieder aufstehen.
Das Gefühl durchfuhr sie wie ein Blitz, und bevor sie es realisierte, schrie auch sie – so laut sie konnte, aus vollem Herzen. Ihr Schrei hallte durch den tosenden Sturm, und mit ihm verschwand die letzte Stille endgültig aus der Welt.
Fast so, als würden ihre Schreie das Schneegewitter zwingen, sich zu beugen, wurde der Wind schwächer, und die wirbelnden Flocken verloren ihre wilde Hast. Der Sturm legte sich, als ob die Welt selbst einen tiefen Atemzug genommen hätte. Sie standen da, noch immer ihre Hände haltend, und in dieser plötzlichen Ruhe fühlte sich die Stille nicht länger bedrückend an – sie war sanft, wie ein Wispern, das sie beide einhüllte.
Dann sahen sie es. Da, im Norden, funkelten die Lichter von Malheim – wie leise Versprechen, wie ein Ruf aus der Ferne, der sie daran erinnerte, dass die Reise nun bald ein Ende finden würde. Doch in diesem Augenblick, als sie sich ansahen, wussten sie, dass das Wichtigste bereits geschehen war. Ihre Stirnen berührten sich, sanft, als würde das letzte Stück der Last zwischen ihnen in den Schnee sinken, still und unbemerkt.
Die Stille, die einst so laut und schwer gewesen war, trug nun eine neue Bedeutung – sie war nicht länger ein Zeichen der Einsamkeit, sondern eine Erinnerung an das, was sie miteinander geteilt hatten. Ohne ein weiteres Wort zogen sie sich in eine feste Umarmung. Sie wussten beide, dass der andere immer da sein würde – und dass sie es wert waren, diesen Weg gemeinsam gegangen zu sein.