Der dunkle Raum

Dieser Text ist wie ein dunkler Raum. Lies ihn, wenn du bereit bist, nicht allein im Raum zu stehen

Ich weiß nicht, wie ich hier gelandet bin, aber »hier« ist es dunkel. Es ist so dunkel, dass »dunkel« vermutlich das falsche Wort für diese Art von Dunkelheit ist. Der Raum, in dem ich mich befinde, hat – soweit ich fühlen kann – vier Wände. Harte, rohe Wände aus Stein. Keine Fenster. Keine Tür. Nur Wände.

Schon lange kann ich nicht mehr unterscheiden, ob ich die Augen offen habe oder ob ich sie längst geschlossen habe. Die Finsternis ist in diesem Raum ein ständiger Begleiter. Es wirkt beinah so, als wäre die Finsternis selbst dieser Raum.

Ich habe versucht zu sprechen, sogar zu schreien, aber meine Worte blieben in diesem Raum. Ich dachte, vielleicht könne ich mich mit meinem Echo unterhalten, nur um die Illusion eines Gesprächs zu haben. Aber selbst das Echo hat hier kein Zuhause. Es wird in der Finsternis verschluckt. Hier bin nur ich. Es ist beinah so, als wäre ich unter Wasser – als wolle die Dunkelheit in mich eindringen, meine Lungen füllen, meine Gedanken lähmen. Doch noch wehre ich mich dagegen.

Immer wieder taste ich die Grenzen des Raums ab, weil ich das Gefühl habe, als wäre er grenzenlos – und doch beengt mich diese Dunkelheit so sehr, dass ich kaum Luft bekomme. Dann verliere ich die Hoffnung, und der Druck lässt nach. Es ist, als wäre der Raum ein Wesen. Ein Wesen, das zuhört, aber nicht antwortet. Er spricht mit mir über die Dunkelheit - doch es hat nichts zu sagen.

Wenn ich versuche, an etwas Schönes zu denken, fühle ich wieder diese Enge – als würde sich ein Muskel zusammenziehen und erst loslassen, wenn ich kaum noch atmen kann. Ich frage mich, ob ich allein hier bin – was auch immer »hier« eigentlich sein soll. Ich frage mich, ob ich träume, weil ich selbst im Schlaf nur die Schwärze sehe. Schlafe ich überhaupt wirklich? Die Zeit hat hier keinerlei Bedeutung.

Doch manchmal ist da ein Gefühl. Ein Gefühl, das nicht von mir kommt. Obwohl ich längst nicht mehr weiß, wo der Raum aufhört und ich anfange, kommt dieses Gefühl von außerhalb meiner Wahrnehmung. Ich versuche, es zu greifen, doch es verschwindet – nur um wiederzukommen, als wolle es, dass ich es wahrnehme. Nur um dann wieder zu verschwinden. Es ist, als würde der Raum mir immer wieder kleine Stücke von etwas geben, nur um sie mir gleich wieder zu nehmen. Ich gebe auf, das zu greifen, was nicht zu greifen ist. Und es verschwindet – so lautlos laut, wie es gekommen ist.

Ich gebe meinen Widerstand gegen die Dunkelheit auf und liege einfach nur da und lasse die Dunkelheit tief in mich einsickern. Es fühlt sich an, als dringe der Raum in mich ein, und die Grenze zwischen mir und ihm verschwimmt immer mehr. Doch bevor ich das Gefühl habe, mich völlig zu verlieren, schrecke ich hoch – nur um zu wissen, dass ich noch etwas anderes bin als Dunkelheit. Ich schlage meine Hand gegen die Wand – nur um irgendetwas zu fühlen. Um zu wissen, dass ich noch da bin. Dass ich noch ich bin – und nicht der Raum. Doch dort, wo die Wand sein sollte, ist nichts. Oder ich fühle einfach nichts mehr. Die Wand scheint noch da zu sein – und doch ist sie es nicht. Ich renne mit aller Kraft gegen die Wand – doch ich falle einfach nur. Nicht einmal das will mir der Raum lassen. Nicht einmal die Genugtuung, etwas zu fühlen - auch wenn es nur Schmerz ist.

Aber was, wenn die Wand noch da ist – und nur ich einfach nichts mehr bin? Was, wenn ich keinerlei Widerstand mehr bin? Kein Objekt mehr? Sondern nur ein Gedanke in diesem Raum? Was, wenn mein Körper nur der Versuch meines Geistes ist, nicht vollständig durchzudrehen?

Doch dann fühle ich etwas. Etwas. Etwas ist da. Es ist kein Gefühl. Es ist etwas. Eine Hand berührt meine Schulter. Sie ist so warm. So unendlich warm. Ich hatte längst vergessen, wie sich Wärme anfühlt – und doch fühle ich sie. Ich verfalle in Schockstarre. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, weil ich Angst habe, dass sie gleich wieder verschwindet. Doch nach einiger Zeit versuche ich, die Hand zu greifen. Ich berühre sie und doch schreckt sie nicht weg. Sie ist einfach nur. Sie ist einfach nur - da.

Meine Gedanken drehen sich: woher kommt diese Hand? Wo ist der Rest dieser Hand? Ist sie nur ein Fragment? Eine Erinnerung? Aber war das wirklich wichtig?

Nein.

Sie ist einfach da. Ich hinterfrage sie nicht. Sie ist einfach da. Sie ist warm. So warm. Früher hätte ich sie vielleicht weggeschlagen, aber sie ist das Einzige, was hier ist. Sie ist das Einzige, was mir Halt gibt. Sie versucht nicht, irgendetwas zu sein. Sie ist einfach nur. Warm.

Doch die Dunkelheit um mich herum ist noch immer da. Der Raum ist noch immer da. Und wenn ich versuche, ihm mit Gewalt zu begegnen, hört er auf zu sein. Oder ich höre auf zu sein. Aber die Hand ist weiterhin da. Also muss auch ich da sein.

Als ich diesen Gedanken gedacht habe, habe ich das Gefühl als würde der Boden beben. Erst ist es nur ein Zittern – kaum wahrnehmbar. Doch das Gefühl ist so laut, weil alles so still um mich herum ist. Ich greife nach der Hand – und sie ist noch immer da. Dann falle ich. Tief. So, als würde die Dunkelheit endlich zu dem Loch werden, das sie schon immer war.

Langsam verschwindet die Hand. Und ich zerbreche an dem Gedanken, nun nichts mehr zu fühlen. Ewig zu fallen. Kaum wird es ernst, bin ich wieder allein. Alleine. Doch dann ist sie wieder da. Nicht mehr auf meiner Schulter – sie greift nach mir. Sie greift meine Hand. Und sie hält mich fest. Sie hält mich. Sie ist da, während ich falle. Ich greife sie so wie sie mich greift. Dann – da ist eine zweite Hand. Sie greift auch nach mir. Sie ruft mir stumm etwas zu. Ich verstehe sie nicht. Ich muss sie nicht verstehen. Sie zieht mich. Sie zieht mich hoch. Sie zieht mich aus dem Abgrund, der keinen Unterschied zum Rest des Raums mehr hat. Aber sie zieht mich aus dem Abgrund.

Dann fühle ich wieder etwas unter meinen Füßen. Ich stehe. Die Hände halten mich noch immer. Noch immer. Ich will sie nicht loslassen. Und sie halten mich fest. Aber auch der Raum hält mich fest. Er fängt an, an mir zu zerren, er zieht mich tiefer in die Dunkelheit. Doch die Hände sind noch immer da. Ich greife fester zu – und sie greifen zurück. Sie halten mich. Umschlossen.

Der Sog der Dunkelheit wird stärker. Mächtiger. Dunkler. Doch die Hände halten mich. Und ich halte sie. Sie ziehen mich zu sich. Und die Dunkelheit zerrt an mir, doch ich vergesse sie. Ich fühle diese Wärme. Nicht nur die Hände. Ich fühle etwas in mir.

Ich fühle einen Herzschlag.
Stille.

Die Hände ziehen mich weiter. Dann umarmt mich etwas. Es fühlt sich an, als wäre es die Wärme selbst. Ich werde umarmt. Ich bin etwas. Ich bin. Ich umarme die Wärme. Sie ist da. Sie ist nicht nur da – sie ist.

Noch ein Herzschlag.
Stille.

Ich fühle, wie die Wärme in mich eindringt. Wie sie meine Adern erwärmt. Wie ich wieder etwas bin. Die Wärme durchdringt mich – und der Raum ist nicht mehr von Bedeutung. Nur noch die Wärme.

Ich stehe. Ich fühle. Ich fühle mich. Der Raum ist kalt. Und ich fühle mich selbst. Die Umarmung ist verschwunden, aber jemand hielt mich fest, als mich nichts mehr gehalten hat.

Der Raum ist noch immer dunkel, aber die Dunkelheit ist verschwunden. Sie erdrückt mich nicht mehr.

Ein Herzschlag.
Stille.

Dann öffnet sich eine Tür. Der Raum flutet sich mit Licht – und ich sehe wieder etwas anders als Schwarz. Ich bin jemand. Zögerlich gehe ich durch die Tür und sehe einen wunderschönen Ort. Die Tür schließt sich hinter mir und verschwindet. Das Meer rauscht sanft, und der salzige Wind füllt meine Lungen. Die Sonne kitzelt meine Nase, und ich muss unwillkürlich lächeln.

Doch als ich mich umblicke, sehe ich eine Tür. Eine andere Tür. Sie ist schwarz. Und doch fühle ich keine Angst vor ihr. Gerade eben war die Dunkelheit noch eine Last, die mich fast erdrückt hat – und nun gehe ich auf die Dunkelheit zu. Ich öffne die Tür und bin in einem Raum. Er ist mit Dunkelheit geflutet und doch kann ich sehen. Dort sitzt jemand. Sie sieht verzweifelt aus und tastet immer wieder mit den Händen der Raum ab. Sie schlägt gegen die Wand – und verfehlt sie. Sie steht auf, rennt gegen die Wand und fällt hin. Sie weint fürchterlich und zieht ihre Beine an sich um sich selbst zu umarmen.

Ich knie mich hin und lege meine Hand auf ihre Schulter. Und sie greift nach ihr. Dann umarme ich sie. Ich muss nichts sagen. Ich kann einfach da sein. Denn sie versteht. Nicht sofort. Nicht in Worten. Aber sie wird fühlen. So wie ich gefühlt habe.

Ich weiß nicht, wie lange ich sie umarme, oder wie lange sie mich festhält. Wenn meine Arme müde werden, wenn mein Herz sich fragt, ob es reicht, nur da zu sein – dann erinnere ich mich:

Jemand hielt mich fest, als mich nichts mehr gehalten hat.

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